Koffer packen: Über den Umgang mit Ungewissheit

Umgang mit Ungewissheit

Kennen Sie das? Eigentlich freuen Sie sich auf die Ferien, aber nun steht noch das Kofferpacken an. Manchen Leuten ist das sehr unangenehm. Warum? Koffer packen heisst, sich auf die Ungewissheit der Zukunft vorzubereiten. Koffer packen hat mit vielen kleinen Entscheidungen zu tun: Packe ich die warme Jacke ein oder nicht? Sollen die schönen Schuhe mit? Aber was, wenn es regnet? Werde ich wirklich am Morgen joggen gehen und die Joggingkleider brauchen, oder dann doch lieber ausschlafen? Den ausgewaschenen Bikini einpacken oder doch den tollen neuen, der etwas drückt?

Koffer packen ist das Paradebeispiel von Entscheiden unter Ungewissheit – was auch im beruflichen Alltag zunehmend gefragt ist. Wie gelingt es, mit diesen Situationen umzugehen? Hier kommen drei Ansätze dazu: der rational-risikobasierte Ansatz, der Effectuation-Ansatz – und der nette Umgang mit dem früheren Selbst.

Ist doch kein Problem: Ungewissheit und Risiko managen

Eine erste Idee ist es, diese unplanbaren Situationen rational anzugehen. Dabei hilft die klassische Risiko-Matrix:

Risiko-Matrix aus dem Projektmanagement

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt, wird auf der horizontalen Achse dem dabei entstehenden «Schaden» gegenübergestellt. Ist die Wahrscheinlichkeit klein und der negative Effekt vernachlässigbar, dann akzeptiere ich das Risiko. Im Kofferpackbeispiel würde das heissen: Meine Erfahrung zeigt, dass ich sowieso nicht joggen werde (kleine Wahrscheinlichkeit). Sollte ich plötzlich Lust auf Jogging entwickeln, bin ich nicht traurig, wenn es dann wegen den fehlenden Joggingschuhen ausfällt (kleiner Schaden). Also kommen die Joggingschuhe nicht mit – ich lebe damit.

Ist die Wahrscheinlichkeit des Eintretens grösser und auch der entstehende Nachteil nicht akzeptabel, sollte ich den Schaden abmindern: Beim Zelten auf 1700 kann es im Sommer gegen Abend schon einmal kühl werden (mittlere Wahrscheinlichkeit). Wenn es kühl wird und ich die warme Jacke nicht dabei habe, wird es beim Kochen/Essen draussen sehr unangenehm (unakzeptabler Schaden). Ich kann den Schaden abmildern, in dem ich in dieser Situation die Fleecejacke, den dicken Pulli und die Regenjacke anziehe – die dicke Jacke bleibt zuhause.

Bei einer bestimmten Schwelle wird der entstehende Nachteil so gross, dass er bereits bei einer nur geringen Wahrscheinlichkeit nicht mehr akzeptabel ist und nicht gemildert werden kann: Wenn ich den ausgeleierten Bikini mitnehme und die brüchige Schnalle das Bad im Meer nicht überlebt, dann muss ich möglicherweise oben ohne an den Strand zurück. Das wäre mir ausgesprochen peinlich. Ich nehme also lieber den neuen Bikini mit.

Effectuation: Ungewissheit nutzen, um mitzugestalten

Ungewissheit heisst nicht nur Risiko, sondern auf der anderen Seite auch Gestaltungsmöglichkeit. Diese Seite betonen zum Beispiel die Prinzipien von Effectuation (hier bereits beschrieben), welche auf den Handlungsstrategien erfolgreicher Unternehmer und Unternehmerinnen abgeleitet sind. Den Koffer mit Effectuation packen würde heissen: Ich verzichte darauf, mir Szenarien detailliert vorzustellen, da es sowieso immer anders kommt, als man denkt. Ich schaue vor allem, dass ich Dinge in meinem Koffer habe, welche mir möglichst viele Möglichkeiten offenlassen. Im Extremfall: Ich nehme nichts als eine Kreditkarte mit und schaue vor Ort, was ich wirklich benötige.

  • «Bird in Hand»-Prinzip (Starte mit dem, was du hast): Was brauche ich täglich, damit ich mich selber sein kann? Was sind meine «Wohlfühl»-Dinge?
  • «Affordable Loss»-Prinzip (Schaue nicht auf das, was du gewinnst, sondern auf den Verlust, mit dem du leben kannst): Wo bin ich bereit, Konzessionen zu machen? Welche Dinge nehme ich im Urlaub in Kauf? (Verregnet werden, anders gekleidet sein als die Mehrheit, Toilettenartikel kaufen müssen, nicht wissen, wo man abends schläft…)
  • «Lemon-to-Lemonade»-Prinzip (Nutze gezielt Zufälle, mach etwas daraus): Keine Joggingschuhe dabei? Ich nehme spontan am Strandyoga teil. Es regnet die ganze Woche? Ich gehe in die Stadtbibliothek und lese das erste Buch im zweiten Gestell rechts. Bus verpasst? Ich nehme den andern, der woanders hin fährt.
  • «Crazy Quilt»-Prinzip (Vernetze dich, um deine Möglichkeiten zu vergrössern): Ich halte die Augen offen, wen ich treffe. Möglicherweise hat der Kellner eine Idee für eine Aktivität, die mir nie in den Sinn gekommen ist? Eine Bekanntschaft am Frühstücksbuffet kann mir einen Fahrradpumpe ausleihen?

Die Effectuation-Sicht auf Ungewissheit kann in unserer sonst oft durchorganisierten Welt sehr entlastend wirken.

Warum ist Entscheiden trotzdem schwer?

Also müsste es doch mit diesen tollen Tools einfach sein, das Packen etwas konstruktiver anzugehen? Ist es leider nicht – die rationale Komponente reicht beim Entscheiden unter Ungewissheit oft nicht aus. Viele Menschen, gerade wenn sie hohe Ansprüche an sich selber haben, haben grosse Mühe mit Fehlentscheidungen. Sie sind ungeduldig mit sich selber und schämen sich, dass sie so schlecht im Entscheiden sind. Andererseits ist es ihnen wichtig, die richtige Entscheidung zu treffen. Das Problem: Diese Sicherheit gibt es ganz einfach nicht. Wenn aber nun die getroffene Entscheidung falsch war, dann hadern sie mit sich selber, bzw. dem früheren Selbst: «Musstest du eitles Ding unbedingt die Schuhe mit Absatz mitnehmen? Was für eine Scheissidee, hier ist nur Kopfsteinpflaster und kein Schuhladen in Sicht!»

Selbstverständlich ist es genau dieser Mechanismus, der das Entscheiden noch schwieriger macht: Wenn die Entscheidung falsch war, tun mir nicht nur negative Konsequenzen weh, sondern ich werde mich auch noch selber strafen, damit ich noch mehr leide. Genau deshalb muss ich unbedingt die richtige Entscheidung treffen. Und genau deshalb wird alles immer schwieriger.

Das Hadern bezwingen: Der Vertrag mit sich selber

Vom Psychotherapeuten und Coach Gunther Schmidt stammt die Idee, dass dieses Hadern mit sich selber eigentlich «steinzeitlich» ist. Gemäss dem Römischen Recht (nulla poena sine lege) darf nämlich niemand für etwas bestraft werden, wofür es zum Zeitpunkt der Tat noch kein Gesetz gab. Genau das passiert aber, wenn man sein früheres Ich für etwas tadelt, was es noch nicht wissen konnte.

Ein Ausweg ist also, einen Vertrag mit sich selber zu machen: Ich handle so, wie es mir nach bestem Wissen und Gewissen momentan sinnvoll erscheint. Im Gegenzug wirst du, zukünftiges Ich, mich dafür wertschätzen und mich dabei unterstützen, die trotzdem allfällig entstehende negative Situation möglichst zu beheben. Also: Ich packe den Koffer so, wie ich es in der momentanen Situation nach bestem Wissen und Gewissen sinnvoll finde. Wenn in der Zukunft herauskommt, dass ich etwas vergessen habe, werde ich die Situation neu anschauen und versuchen, den Schaden zu beheben. Dabei werde ich genausoviel Verständnis und Support für mein früheres Ich aufbringen, wie ich es für meine Mitarbeitenden auch haben würde, wenn sie Fehlentscheide getroffen haben.

Ich wünsche Ihnen schöne Sommerferien!