Immer besser werden? Continuous Improvement mit Blick aufs Optimum

Continuous Improvement oder Optimum

Kürzlich wandte sich eine Bekannte an mich, weil sie auch im Mitarbeitergespräch aus ihrem Vorgesetzten einfach nicht herauspressen konnte, was sie nicht gut macht. Die Antwort des Vorgesetzten «Keine Angst, du machst im Moment von mir aus gesehen alles sehr gut!» war für sie nicht befriedigend. Sie würde sich doch so gern verbessern! Wie für viele andere, die um ihre Karriere besorgt sind, so ist auch für sie «Continuous Improvement» – «Immer besser werden» ein Leitprinzip im Beruf.

Immer besser werden: Die offene Skala

Warum eigentlich? Warum ist für viele von uns gut nicht gut genug? In der Schule gibt es Noten, und spätestens wenn man (bei uns in der Schweiz) eine Sechs hat, kann man zufrieden sein. Nach der Schule hört das auf. Die Skala ist scheinbar für viele nach oben ganz weit offen. Das zeigt sich in sehr vielen Phänomenen im Arbeitsleben:

  • Der Vorgesetzte zur Mitarbeiterin: «Jeder kann sich verbessern. Es gibt immer etwas, was du nicht gut kannst. Ich erwarte von dir, dass du auch über deine Schwächen sprichst.»
  • Der Teamleiter im Coaching: «Bei mir im Team läuft es super! Trotzdem: Kannst du mir Tipps geben, was ich noch verbessern kann?»
  • (und darauf die Coach-KollegInnen in der Intervision: «Stelle ihm noch mehr Fragen! Irgendwo ist der Hund begraben! Niemand ist eine perfekte Führungskraft!»)
  • Der Experte bei der Abschlussprüfung: «Hmm, eine Sechs gebe ich eigentlich nie. Das würde ja heissen, dass ich absolut begeistert bin!»

In der Agilität ist «Continuous Improvement» ein Kernprinzip. Regelmässig wird reflektiert, wie die Prozesse optimiert, die Zusammenarbeit noch besser gestaltet werden könnte. In manchen Teams resultiert daraus sehr viel Stress. Wann darf man sich in einem Scrum-Team schon ausruhen? Nach dem Ende des Sprints beginnt der nächste. Die Velocity könnte noch steigen. Wir könnten noch besser werden in der Kommunikation. Technologisch gibt es sowieso immer etwas aufzuräumen – und nein, als Experte für die neuste Frontend-Technologie möchte ich mich im Moment sicher noch nicht bezeichnen…

Ist das so, wie es angedacht ist? Ich meine nein. Was der nach oben offenen Skala fehlt, ist das Bewusstsein fürs Optimum. Befindet man sich im Optimum, führt jede weitere «Verbesserung» zu einer Verschlechterung der Gesamtsituation. Es gilt deshalb, für jede Situation zu definieren, woran man merken würde, dass man sich in diesem Optimum befindet. Kontinuierliche Verbesserung kann an diesem Punkt nur noch heissen: Die Kurve im Auge zu behalten und erkennen, wann man das Optimum verlässt. Sogar Scrum ist also mit dieser Philosophie des Optimums durchaus kompatibel.

Continuous Improvement: Zuerst das Optimum beschreiben!

Ein guter Ausgangspunkt ist dabei die Frage «Wie wäre es denn, wenn es gut (genug) wäre?».

  • Für das Mitarbeitergespräch: Woran würdest du (Vorgesetzte) sehen, dass ich einen sehr guten Job mache? Welche Resultate findest du für meine Aufgabe in meiner jetzigen Position optimal?
  • Für die Führungskraft: Woran würdest du merken, dass du dich mit deiner Führung im «Optimum» befindest? Welche Reaktionen deiner MitarbeiterInnen würdest du dann beobachten? Welche Reaktionen deiner Vorgesetzten? Und welche Resultate?
  • Für den Experten: Wie verhält sich ein Prüfling, der eine Sechs verdient? Was ist beobachtbar? Wann ist die entsprechende Aufgabe «sehr gut» gelöst? (Und mal grundsätzlich: Muss die sehr gute Leistung wirklich etwas Seltenes bleiben, auch wenn wir die Auszubildenden genau in diese Richtung fördern?)
  • Für das Scrum-Team: Woran merken wir, dass wir optimal unterwegs sind? Wo liegt unser individuelles Optimum – für Zusammenarbeit, Velocity, Resultate? Wie stellen wir sicher, dass wir nicht übers Optimum hinausschiessen, wenn es soweit ist?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Wir sind hier keineswegs in der Zone «sich faul auf den Lorbeeren ausruhen». Es handelt sich hier um das Festlegen von vernünftigen Zielen und um klare Absprachen zwischen Bewertenden und Bewerteten. Schon das Optimum ist in manchen Situationen sehr schwer erreichbar. Aber: Eine Skala zur Bewertung kann (zumindest ausserhalb der standardisierten schulischen Bildung) nie absolut sein, sondern muss sich auf die gegenwärtige Situation und auf das überhaupt Wünschbare beziehen. Alles andere schafft nicht nur mehr Stress und Bewertungsfrust, sondern hat beim Verlassen des Optimums sogar negative Konsequenzen für die Organisation.