Hacking Personal Kanban – Ein Selbstversuch

Was macht eine seit kurzem selbständige Agile Coach, wenn sie durch Corona ins Homeoffice gezwungen wird? Genau – ein Personal-Kanban-Board. Schliesslich muss der Tag strukturiert werden – jetzt nur nicht resignieren und sich gehen lassen! (Für diejenigen, welche noch nie von Kanban gehört haben, sei hier anhand des Beispiels kurz beschrieben, worum es geht, die andern scrollen zur nächsten Überschrift.)

Persönliches Kanban: Drei Kolonnen und ein Haufen Post-Its

Eine TODO-Liste aus Post-Its ist schnell erstellt. 16 Aufgaben! Sieht nach einem Haufen Arbeit aus, wahrscheinlich reicht der Tag dafür nicht aus…

Wir brauchen noch drei Spalten – TODO, DOING für alles, was angefangen ist und DONE für das Erledigte. Zudem sind die Aufgaben priorisiert – die Rechnungen müssen als Erstes bezahlt werden, das Meeting ist um 10 Uhr bereits fixiert und es macht mehr Sinn, die Küche nach dem Kochen zu putzen als vorher.

Level 1: Fülle den Tag…

Ich bin startklar! Wichtig ist auch das «Work-In-Progress»(WIP)-Limit: Es sollte nie mehr als ein Task pro Person gleichzeitig im «Doing» sein. Da ich nur eine Person und kein Team bin, kann ich das in meinem «Personal Kanban» recht gut einhalten, ausser beim Waschen, da es dort Wartezeiten gibt. Gegen Ende des Nachmittags bin ich an diesem Punkt:

Hausarbeit und LinkedIn haben die Zeit aufgefressen. Eigentlich wollte ich heute noch Sport machen! Auch wenn das sehr viel weniger «wichtig» eingestuft ist als die drei anderen noch offenen Tasks – ich halte es vor dem Computer nicht mehr aus und gönne mir die Zeit draussen – danach ist der Arbeitstag auch schon vorbei.

Am nächsten Tag läuft es in etwa gleich ab, und auch am übernächsten und so weiter. Der Keller wird nie ausgemistet, das Pult nicht aufgeräumt, das Buch «Effectuation» von Faschingbauer steht noch immer originalverpackt im Büchergestell. Aber immer gibt es halt Dringenderes zu tun. Auch um den Sport muss ich täglich kämpfen.

Was passiert mit dem wirklich Wichtigen?

Während der Woche sammle ich die businessrelevanten Aufgaben in einer speziellen Sektion – es sind die Post-Its mit sehr kundenbezogenen Tasks, die ich nicht wiederverwenden kann. Ich bin überrascht: Sehr wenig landet dort. Wie kann das sein? Ich bin doch bei meinem Personal Kanban immer nach Wichtigkeit vorgegangen und habe priorisiert. Trotzdem scheinen wiederkehrende Haushaltstasks und andere Kleinigkeiten mich wie Mühlsteine am Vorankommen zu hindern.

Irgendwie ist das nicht so befriedigend. Dann stosse ich auf einen Tipp des Unternehmers und Authors Timothy Ferriss:

There should never be more than two mission-critical items to complete each day. Never. […] If you are stuck trying to decide between multiple items that all seem crucial, as happens to all of us, look at each in turn and ask yourself, «If this is the only thing I accomplish today, will I be satisfied with my day?«

Timothy Ferriss, The 4-Hour Workweek

Das Konzept, dass Ferris in seiner «4-Hour Workweek» präsentiert, ist in der Tat verlockend: Diese 2 «mission critical»-Tasks stellt er grundsätzlich vor 11 Uhr fertig, damit hat er den Rest des Tages für sich. Definitiv wert, das einmal auszuprobieren!

Level 2: Priorisierung, aber richtig!

Schon in der ersten Woche mit der neuen Methodik wachsen die erledigten business-relevanten Tasks kontinuierlich an – viel mehr als mit dem herkömmlichen Kanban. Folgende Prinzipien wende ich dabei an:

  • Die TODO-Liste bleibt. Sie wird nun hauptsächlich durch businessrelevante Tasks aufgefüllt: Was muss als nächstes geschehen, um das Geschäft weiterzutreiben?
  • Haushaltstasks werden gar nicht erst aufgeschrieben. Sind diese dringend oder wichtig genug, gehen sie nicht vergessen (z.B. Kochen)
  • Jeden Tag werden 2 Tasks explizit danach ausgewählt, dass ich nach deren Erledigung mit meinem Tag zufrieden sein kann.
  • Sind diese Tasks erledigt, mache ich nur noch, worauf ich Lust habe.

Der erstaunliche psychologische Effekt, den ich an mir beim Personal Kanban beobachtete: Sind die zwei «wirklich wichtigen», weil befriedigenden Tasks erstmal erledigt, setzt das ungeheure Energie frei für den Rest des Tages. Nicht nur den Sport kann ich so viel mehr geniessen, es passen auch noch diverse kleinere Dinge wie Haushaltsarbeiten und Administratives mühelos in den Rest der Zeit.

Ein Nebeneffekt ist auch, dass die TODO-Liste dynamisch bleibt. Jeden Tag überlege ich mir aufs Neue, ob es nicht noch etwas businessrelevantes gäbe, dass genau jetzt angegangen werden muss. So werden tendenziell mehr businessrelevante Dinge eingetragen, während eigentlich Unwichtiges (wie «Keller ausmisten») es gar nicht erst in die TODO-Liste schafft, bzw. daraus entfernt wird.

Fazit: Es wird mehr Wertvolles erledigt, die Energie steigt und man hat sogar noch mehr Freizeit!

Agile Teams: Das täglich Erledigte als Treibstoff nutzen

Könnte das auch für agile Teams relevant sein? Bei der Priorisierung der Aufgaben richtet man sich bei Scrum wie Kanban eigentlich nach dem «Business Value»: Wieviel bringt diese Aufgabe für das Business?. Allzuoft tappen Teams jedoch in die gleiche Falle, wie ich beim Personal Kanban: Dinge, die eigentlich für das Business von grossem Wert wären (z.B. Innovationen, Refactorings) werden immer wieder zurückgestellt, weil das Tagesgeschäft mit «brennenden» Bugs, Meetings, Fehleranalysen und zu erstellenden Reportings vermeintlich wichtiger ist.

Zudem habe ich mit meinen bisherigen Teams den Aspekt der «persönlichen Befriedigung» ignoriert. Eine Tagesplanung wie oben mit nur höchstens zwei priorisierten Tasks (pro Person, oder bei sehr kollaborativen Teams, per Team!) wäre also einen Versuch wert.

Machen Sie das Experiment und fragen Sie die Teammitglieder Ihres agilen Teams, welche zwei Aufgaben sie heute erledigen wollen, damit sie am Ende des Tages ein gutes Gefühl ihrer geleisteten Arbeit mitnehmen können.

Priorität für die zwei Tasks, nicht für die erfasste Zeit!

Möglicherweise müssen Sie dafür einiges umorganisieren:

  • Diskutieren Sie im Team, wann jeder und jede Einzelne das Gefühl hat, einen guten Arbeitstag geleistet zu haben.
  • Strukturieren Sie im Team die Aufgaben so,
    • dass ein Task innerhalb eines Tages erledigt werden kann und
    • dass dieser den Teammitgliedern, die ihn erledigen, ein gutes Gefühl von sinnvoller Arbeit gibt.
  • Nutzen Sie das Daily Standup dafür, dass die Teammitglieder über ihre erledigten Tasks sprechen dürfen. Lassen Sie die Teammitglieder pro Tag ihre zwei befriedigenden Tasks aus der TODO-Liste benennen.
  • Passen Sie die Grösse der Tasks an, wenn die Tasks selten in einem Tag erledigt werden können.
  • Haben Sie oder das Team Tasks in der TODO-Liste, die eigentlich keinen Businessvalue generieren, sondern nur den Tag füllen? Oder eine Person auslasten, die sonst «nichts zu tun» hat? Nein? Schauen Sie noch genauer hin – und dann versuchen Sie mutig, diese Aufgaben loszuwerden.
  • Dies gilt im Übrigen auch für Meetings: Verschieben Sie längere Meetings auf eine Zeit, in der von der Tagesarbeit möglichst schon der grösste Teil erledigt ist. Oder werden Sie möglichst viele von diesen los.

Vermeiden wollen wir – ob Teammitglied, Führungskraft oder ganze Organisation – ja genau dieses Phänomen:

In other words, I was working because I felt as though I should be doing something from 9-5. I didn’t realize that working every hour from 9-5 isn’t the goal; it’s simply the structure most people use, whether it’s necessary or not.

Timothy Ferriss, The 4-hour workweek

Ich bin gespannt, in wie weit sich meine persönlichen Erfahrungen auf agile Teams übertragen lassen. Gerne begleite ich Sie natürlich dabei (kontakt@in-gang.ch). Und was wäre eigentlich, wenn man die Teams nach der Erledigung der zwei Tasks in die Freizeit entlassen würde, so wie ich es bei mir persönlich gehandhabt habe…? Aber das ist eine ganz andere Geschichte und für sich allein einmal einen ganzen Blogpost wert.