- «Führung heisst, deine Komfortzone auch mal zu verlassen!»
- «Unsere Mitarbeitenden müssen jetzt einfach mal aus der Komfortzone raus!»
- «Wer erfolgreich und glücklich werden will, muss aus der Komfortzone raus.» (siehe z.B. hier)
Die meisten von uns haben solche oder ähnliche Sätze wohl schon gehört. Die «Komfortzone» ist dabei ein negativ behafteter Begriff. Allgemein wird behauptet, es gäbe keine persönliche Entwicklung, kein Lernen, keine Innovation, wenn man die Komfortzone nicht verlässt. Aber stimmt das überhaupt?
Gehen wir einmal davon aus, dass mit der Komfortzone der Bereich gemeint ist, in dem sich der Mensch rundum wohl fühlt – also ganz im ursprünglichen Sinn des Wortes. Wie sind wir eigentlich dahin gekommen, dass wir diesem positiven Konzept nun eine negative Bedeutung geben?
Oh je, ich bin in der Komfortzone!
Meine Hypothese: Das hat nicht zuletzt mit dem Streben nach ständiger Optimierung zu tun, dem in unserer Gesellschaft so ziemlich alles untergeordnet wird (auch bereits beleuchtet im Blogpost hier). In der Komfortzone wird nämlich nicht mehr optimiert, da man keinen Veränderungsdruck spürt, wenn alles gut ist. Im Umkehrschluss leitet man daraus ab, dass dies also ein «Fehlzustand» ist. Nur: Zäumen wir hier das Pferd nicht vom Schweif her auf? Warum sollte ich eigentlich ständig etwas verändern, wenn ich mich im Optimalzustand befinde?
Tatsächlich sind aus diesem Grund viele Menschen gar nicht mehr in der Lage, ihre «Komfortzone» zu geniessen (und wäre das nicht eigentlich «Glück»?). Ich liege am Sonntag einfach auf dem Sofa und fühle Scham und Schuld – ich müsste mich doch bewegen! Du verbringst die Ferien immer auf der gleichen Alp? Da verpasst du doch was! Wer lieber mit den Händen arbeitet, muss trotzdem ans Gymnasium – mach was aus deinem Leben! Erfolgreiche Manager und Managerinnen prahlen damit, jeden Tag um fünf Uhr aufzustehen und möglichst wenig zu schlafen. Die Botschaft: Wer sich weiterentwickeln und im Leben vorankommen will, muss raus aus der Komfortzone. Wenn ein Unternehmen innovativ und erfolgreich sein will, müssen Mitarbeitende und Führung dauerhaft raus aus der Komfortzone.
Innovation, Lernen, Entwicklung – nur ausserhalb der Komfortzone?
Ist das so? Kaum jemand würde heute noch ernsthaft behaupten, dass Menschen kreativer sind oder besser lernen, wenn man ein unangenehmes Klima schafft, sie bei Fehlern bestraft oder sie unter Druck setzt. Dies führt zur Vermeidung von Strafe und Risiko, aber kaum zu intellektuellem oder persönlichem Wachstum und auch nicht zu brauchbarer Innovation. Im Gegenteil – in solchen Umfeldern hält man sich gerne an des Bewährte, von dem man weiss, dass es funktioniert. Ein unkomfortables Umfeld mit viel Druck und Angst ist auch kontraproduktiv für nachhaltige Leistung.
Werden also einzelne Mitarbeitende, Führungskräfte oder Teams bewusst «aus ihrer Komfortzone» geholt, ist wenig für die Organisation Sinnvolles zu erwarten. Die auf Social Media oft bemühten Analogien aus dem Spitzensport und der Natur helfen hier nämlich nicht wirklich weiter:
- «Der Einsiedlerkrebs verlässt seine Schale auch, wenn sie ihm zu klein wird!» – Ja, und damit folgt er genau dem ewig gleichen Zyklus, den die Natur für ihn vorgesehen hat. Persönliche Entwicklung oder Innovation sieht anders aus.
- «Erst in der Wettbewerbssituation gelingt es dem Radrennfahrer, das letzte aus seinem Körper herauszuholen und unter grossen körperlichem Unbehagen doch noch den Sieg zu holen!» – Ja, und erstens ruinieren nicht wenige im Spitzensport ihre Gesundheit genau durch dieses Verhalten (eine fragwürdige «Leistung») und zweitens gelingt dem Radrennfahrer dies nur durch hohe Eigenmotivation.
Ein erster Schritt: Demotivatoren entfernen, Motivation ermöglichen
Es ist offensichtlich, dass die «Leistung» des Radrennfahrers nicht erreichbar wäre, wenn man einen beliebigen Menschen auf ein Rennrad zwingt und aus der persönlichen «Komfortzone» holt. Offenbar hat die Komfortzone also auch einen Bewertungsaspekt: Mache ich etwas, das für mich kurzzeitig aufwändig oder unangenehm ist, aber in dem ich einen Sinn sehe, kann ich mich trotzdem noch wohl dabei fühlen (bei mir selber spreche ich sogar hier noch von «Komfortzone»). Sehe ich keinen Sinn, oder werde ich von aussen gezwungen, bin ich definitiv ausserhalb der Komfortzone – und dieser Zustand ist nicht erstrebenswert.
Es geht also bei der Komfortzone auch um Motivation. Wir wissen alle, dass man niemanden vom Sofa weg zu einer Diät zwingen kann. Wer nicht motiviert ist abzunehmen wird sein Gewicht nicht dauerhaft halten können. Wer nicht motiviert ist, für ein Unternehmen Innovationen zu entwickeln, wird nur halbherzig agieren und kaum etwas Sinnvolles beitragen. Nun ist es anderseits sehr schwierig, andere Menschen von aussen für etwas zu motivieren. Besser ist es, systematische Demotivatoren zu entfernen wie auch in diesem Artikel beschrieben:
- Demotiviere ich die Entwicklung der Mitarbeitenden, in dem ich ihnen die Weiterbildung so schwer wie möglich mache?
- Hindere ich Innovation, indem ich starke Leistungsziele für das operative Geschäft setze, die wenig Spielraum lassen?
- Demotiviere ich Kreativität, indem ich das Eingehen von Risiken, Fehler oder das «Verschwenden von Zeit» bestrafe?
Anstelle des Plädoyers «Kommt raus aus der Komfortzone!» ist es also oft hilfreicher zu analysieren, welches Verhalten man sich denn anstatt des Buzzwords «Komfortzone» konkret von wem wünscht. Als zweiten Schritt kann man danach gezielt die Demotivatoren erfragen und beseitigen.
Besser als die Komfortzone: Den Flow unterstützen
Grosse Demotivatoren können auch permanente Überforderung oder mangelnde Unterstützung sein. Die Idee von Training ist im Übrigen eigentlich die langsame Ausweitung der Komfortzone durch nicht zu grosses und oft angeleitetes Überschreiten der Grenzen. In der Führung entspricht diesem Prinzip sehr gut die Balance zwischen «Fördern und Fordern». Statt vom «Verlassen der Komfortzone» zu sprechen, ist hier das Flow-Konzept von Mihaly Csikszentmihalyi nützlicher (siehe Bild):
Hier werden die eigenen Fähigkeiten den Ansprüchen einer neuen Aufgabe gegenübergestellt. Es braucht eine gewisse Herausforderung durch diese Aufgabe, damit man sich nicht langweilt und neues Wissen und Erfahrungen sammeln kann. Andererseits gibt es eine Grenze (definitiv «jenseits der Komfortzone») wo die Mitarbeitenden durch die Schwere der Aufgabe überfordert werden. Lernen, Entwicklung und Innovation finden vorwiegend in der Flow-Zone statt.
Es spricht überhaupt nichts dagegen, für die Bewältigung dieser neuen Aufgaben als Führungskraft die bestmögliche Unterstützung zu bieten – sei es räumlich, materiell oder auch menschlich. Ganz im Gegenteil. Mit der richtigen Unterstützung sind viele Menschen bereit und motiviert, auch für sie ungewohnte erste Schritte zu gehen.