Ich glaube, ich muss hier einmal ein paar Missverständnisse ausräumen. Konsequent plädiere ich hier (und auch auf LinkedIn) immer wieder dafür, auf die persönlichen Stärken zu fokussieren, dem Selbstoptimierungswahn nicht nachzugeben und traditionelles «Feedback» durch ein lösungsorientiertes Gespräch miteinander zu ersetzen. Daraus können aber diverse Missverständnisse entstehen:
Missverständnis 1: Ich darf und soll nicht ansprechen, wenn ich mit dir unzufrieden bin – nur die persönlichen Stärken!
Ja, ich finde das traditionelle «Feedback» in den allermeisten Fällen kein hilfreiches Ritual. Aber nicht, weil dabei Negatives ausgetauscht wird. Vielmehr wird beim Feedback angenommen, dass eine Person der anderen Person objektiv sagen kann «wie es besser wäre». Man geht davon aus, dass mein Umfeld «meine Schwächen» besser kennt als ich selber. (Beide Annahmen werden übrigens in diesem HBR-Artikel sehr schön widerlegt und hier auch nochmals von mir zusammengefasst). Es gibt im Feedback also zwei Komponenten:
- Der Wunsch einer anderen Person, mich zu ändern
- Die Idee, dass dies eine sinnvolle Richtung meiner Entwicklung ist
Punkt 1 ist durchaus legitim, wenn man ihn als das nimmt, was er ist – ein Wunsch, der vor allem mit der Erwartungshaltung der anderen Person zu tun hat. Und über gegenseitige Erwartungen sollte man auf jeden Fall sprechen.
Habe ich etwas dagegen, es auszusprechen, wenn man mit etwas nicht zufrieden ist? Überhaupt nicht. Es gibt im beruflichen Kontext nichts Unangenehmeres, als wenn man erst von den Vorgesetzten zu hören bekommt, dass die Kundin oder der Kollege mit meiner Leistung oder meinem Verhalten nicht zufrieden war. So entsteht ein Klima des Misstrauens und im Team keine psychologische Sicherheit.
Missverständnis 2: Ich darf nichts Neues lernen, sondern muss darauf fokussieren, was ich schon kann?
Vielleicht muss ich hier mein Verständnis von «persönlichen Stärken und Schwächen» klären: Eine «Schwäche» (oder Stärke) ist nicht etwas, was ein Mensch grundsätzlich und als Teil seines Wesens hat. Vielmehr ergeben sich beide erst im Kontext, in dem sich der Mensch befindet. Solange ich als Konditorin nicht vor Menschen hinstehen und eine Präsentation halten muss, ist meine Nervosität vor grossem Publikum keine «Schwäche». Und ich werde mir sicher auch kein Hobby wie Standup-Comedy suchen! Auch ist es in der Triage in der Notfallaufnahme im Spital nicht unbedingt eine Schwäche, wenn man die Geduld nicht hat, durch umfangreiche Analyse der medizinischen Literatur spannende Forschungsfelder zu finden. Als Wissenschaftlerin in einem medizinischen Forschungslabor hingegen wahrscheinlich schon.
Wenn nun aber die Konditorin den Wunsch hat, ihre Kreation auf einer internationalen Messe vorzustellen, dann macht es definitiv Sinn, dass sie die Fähigkeit zum Präsentieren etwas übt. Und wenn sie beschliesst, dass sie eine eigene Konditorei eröffnen will, wird sie womöglich auch eine Management-Weiterbildung machen.
In diesem Fall kommt der Wunsch zum «Arbeiten an den Schwächen» allerdings immer von der Person selbst. Die Schwäche wird als etwas gesehen, was im (neuen) Kontext für die Person wichtig ist. Somit ist auch die Motivation automatisch hoch.
Missverständnis 3: Wenn im Team alle nur an den persönlichen Stärken arbeiten, sind wir weniger leistungsfähig!
Wenn wir nun davon ausgehen, dass sich Stärken und Schwächen erst im Kontext ergeben, ergeben sich daraus auch Konsequenzen für das Arbeiten im Team.
Häufig ist die Situation so, dass im Team alle an der gleichen Messlatte gemessen werden: Unser Team hat eine bestimmte Aufgabe. Also sind die Anforderungen an ein Teammitglied X, Y, Z – wie gut erfüllt Karl X, Y, Z und wie gut Susanne? Dies führt dazu, dass man «Schwächen» identifizieren kann, welche angegangen werden müssen. Die Forderung zur Arbeit an der «Schwäche» kommt dann allerdings von oben, nicht von der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter.
Aber aus der Gesamtsicht macht das gar nicht so viel Sinn. Meist sind in einem Team Fähigkeiten gefragt, die sich in ihren Ausprägungen sogar ausschliessen: Es braucht analytisch begabte Leute mit einem Blick fürs Risiko, es braucht die kreativen Innovatoren. Es braucht die Disziplinierten und es braucht die Mutigen. Es braucht diejenigen, welche nach aussen präsentieren und diejenigen, welche im Hintergrund die Entscheidungsgrundlage aufbereiten. Bei der Zusammenstellung eines Teams ist deshalb die Mischung der Stärken entscheidend.
Ein Team ist dann leistungsfähig, wenn diese unterschiedlich begabten Leute trotzdem miteinander kommunizieren können. So kann es die daraus unweigerlich entstehenden Konflikte zum Nutzen für die Aufgabenerfüllung gut lösen.
Beispiel: Susannes Stärke ist das Präsentieren, aber Risikomanagement ist nicht ihr Ding.
Wenn nun jedes Teammitglied dort an sich arbeitet, wo es «Schwächen» hat, nivelliert sich das Team auf einem Niveau unter dem, was die Einzelpersonen bereits einbringen. Also z.B. weil Susanne so schlecht im Risikomanagement ist, wird sie dazu angehalten, das zu verbessern. An ihren Präsentationsfähigkeiten, die schon gut sind, soll sie hingegen nichts verändern.
Würde Susanne hingegen in einen Visualisierungskurs gehen dürfen (was ihr möglicherweise auch viel mehr Spass macht) würde das Team insgesamt noch leistungsfähiger. Die Säule «Präsentationsfähigkeit» im Team, an der Susanne den grössten Anteil hat, würde noch wachsen. Die Leistungsfähigkeit des Teams wird also eher steigen, wenn die Einzelpersonen ihre Stärken ausbauen dürfen.
Und was ist mit der Stellvertretung? Wenn es ausgerechnet Susanne ist, welche die Person im Risikomanagement vertreten muss, sollte sie tatsächlich an ihren Fähigkeiten in diesem Bereich arbeiten. Meist ist es in einem Team aber weder sinnvoll noch nötig, dass alle sich austauschbar in allen Bereichen auf hohem Niveau vertreten können. Gibt es eine kritische Fähigkeit, die von mehr als einer Person abgedeckt werden soll? Dann würde man dies besser schon bei der Zusammenstellung des Teams beachten. Wenn nicht, hat man sich mehr Austauschbarkeit auf Kosten der Leistungsfähigkeit (und oft auch Motivation) erkauft.
Fazit: Wann es Sinn macht, an den Schwächen zu arbeiten
Eine Ausnahme gibt es natürlich: Die oben angesprochene Fähigkeit zur Kommunikation und Konfliktbereinigung ist für die Leistung eines Teams zentral. Wenn das im Team nicht funktioniert, sollte das Team daran arbeiten. Aber dies ist eine Eigenschaft des Teams als System. Sie sollte deshalb auch im Team trainiert werden und nicht als Problem von Einzelpersonen angegangen werden. Ich helfe Ihnen gerne dabei!