Rollen im beruflichen Kontext sind out. Immer mehr Menschen wünschen sich, sich als «ganze Person» und nicht nur als Rolle in Organisationen einbringen zu können. Prinzipien wie «Menschlichkeit in der Führung», «Führungskräfte als Coach» stehen schon länger im Raum. Seit Corona sprechen wir darüber, wie virtuelle Meetings den Privatraum in den geschäftlichen Kontext bringen. Sogar die Menstruation am Arbeitsplatz soll neu ein Thema werden.
Da die Organisationen sich aber traditionell nicht an Menschen, sondern an einem Zweck orientieren, schafft diese Forderung ständige Reibungen.
- Wie kann ich der Coach meiner Mitarbeiterin sein, wenn ich sie entlassen muss, wenn die Leistung nicht stimmt?
- Wie kann ich das Projekt fristgerecht abschliessen, wenn ich auf die Bedürfnisse meiner Mitarbeitenden Rücksicht nehmen will?
- Braucht es für «Menschlichkeit» das Erfüllen möglichst aller Wünsche der Mitarbeitenden, oder genügt ein respektvoller Umgang?
- Welche Bedürfnisse erfülle ich, welche nicht? Und wie gehe ich mit der daraus resultierenden Ungleichheit um?
- Wenn wir ein Team von Freunden und Freundinnen sind: wie, wann und in welchen Dingen darf ich anderer Meinung sein und das auch sagen?
Rollen: Sicherheit schaffen, Mensch ausblenden
Die traditionelle Organisation hat Rollen geschaffen, um die Arbeitskraft zu nutzen, ohne den «Menschen dahinter» zu sehr einzubringen. Die negative Seite davon ist zweckrationale Ausbeutung, die positive aber eine Reduktion der oben beschriebenen Komplexität. Nehmen wir an, ein Vorarbeiter (Rolle) hiesse José (Mensch), die Mitarbeiterin (Rolle) wäre Erika (Mensch). Die Rolle des «Vorarbeiters» beinhaltete die Macht zu bestimmen, welche Arbeiten die Rolle «Mitarbeiterin» täglich auszuführen hat und zu kontrollieren, ob die Leistung stimmt. Sowohl José wie Erika ist in diesem Beispiel klar, dass ihre Bedürfnisse ausserhalb des vertraglich Geregelten zweitrangig sind. Obwohl José eigentlich bei Erika keinen Leistungsrapport machen möchte, muss er es als «Vorarbeiter» trotzdem tun. Wenn Erika den ganzen Dienstag mit dem Kopf woanders ist, macht es keinen Sinn, dies José mitzuteilen – die Arbeit muss so oder so gemacht werden.
Wenn die «Mitarbeiterin» nun ihre Leistung nicht erbringt, ist es für sie vorhersehbar, dass der «Vorarbeiter» sie darauf ansprechen und kritisieren wird. Bleiben beide dabei in ihrer Rolle, so können sie am Dorffest trotzdem als José und Erika ein Bier miteinander trinken. Gibt es im Team der «Mitarbeitenden» einen Konflikt, wissen alle, dass der «Vorarbeiter» entscheiden wird, was Sache ist. Die Mitarbeitenden selber müssen sich nicht gegeneinander exponieren und «können nichts dafür, wie es herauskommt».
Dies wird schwieriger, wenn José Erika als Mensch anspricht oder das Team als Gruppe von Menschen ihre Konflikte lösen muss. Besonders spürbar wird das in der Formulierung «Bitte nimm es nicht persönlich, aber…». Je mehr man sich als ganzer Mensch in die Organisation einbringen soll, desto absurder wird dieser Satz und desto schwerwiegender sind die daraus resultierenden Störungen auf der Beziehungsebene.
Sich als Person sicher einbringen – mit Teamentwicklung
Dennoch ist es in vielen modernen Organisationen sinnvoll, das Menschliche mehr einzubringen. Kreativität und Innovation entstehen in einer Atmosphäre von psychologischer Sicherheit und im ungehemmten Austausch miteinander.
Teamentwicklung kann in diesem Zusammenhang das Team dabei unterstützen
- Sich darüber klar zu werden, wo personenunabhängige Rollen weiterhin Sinn machen
- einen Weg zu finden, mit den eigenen und fremden Bedürfnissen konstruktiv umzugehen
- Methoden und Rituale zu entwickeln, wie Reibungen und Konflikte angesprochen und bearbeitet werden können
- immer wieder auszuhandeln, wie der Zweck der Organisation mit dem Bedürfnis nach Menschlichkeit kombiniert werden kann.
Diese Unterstützung hilft dem Team zu erkennen, dass es sich hier um ein wichtiges Thema handelt, das auch im hektischen operativen Alltag seinen Platz finden muss. Allzuleicht scheitert das Thema «Menschlichkeit in der Organisation» sonst an den eingangs beschriebenen, nicht angesprochenen Widersprüchen.